Auf links gedreht – den Balg gewendet, das Futter begutachtet, die Nähte geprüft. Das Innere nach außen gekehrt, Kleines großgeschaut und umgekehrt, Smoking und Bettlergewand tauschen die Label. Berlin gegen den Strich gebürstet – Texte für Nörgler und Liebhaber, je nach Perspektive Warnung oder Empfehlung.

Das Wegbier

Das Wegbier

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Mögen Sie es, wenn bei jedem Beschleunigungs- oder Bremsmanöver der S-Bahn halbgeleerte Bierflaschen durch den Waggon rollen, wobei die in ihnen noch enthaltenen Höflichkeitsneigen malzduftende Lachen auf dem Boden hinterlassen? Finden Sie es plausibel, bei Minusgraden mit einem kühlen Bier in der blaugefrorenen Hand durch sogenannte Szenekieze zu streifen? Lieben Sie das Muster von Kronkorken in Ihrer Haut, nachdem Sie in einem verschwiegenen Park-Eckchen flachgelegt worden sind? Finden Sie es charmant, in Ihrer viel zu teuren Airbnb-Wohnung in bester Lage (meint: in größtmöglicher Nähe zu Hotspots des öffentlichen Besäufnisses) zu jeder beliebigen Stunde der Nacht vom enthusiasmierenden Klirren zersplitternder Bierflaschen geweckt zu werden? Mögen Sie diesen wohligen Schauder angesichts fremder Armut, wenn einer dieser randvoll mit Pfandflaschen gefüllten Einkaufswagen an Ihnen vorbeirumpelt, geschoben von jemandem, der – um ein Schlagwort unseres verflossenen Party-Bürgermeisters Wowereit abzuwandeln – lieber sexy als arm wäre? Und – fühlen Sie sich endlich zuhause, wenn Sie am Ostkreuz aussteigen und am Annemirl-Bauer-Platz an Gruppen juveniler Volltrunkener vorbeilaufen, die mit glasigen Augen auf Dutzende leerer Flaschen glotzen, die sie in einer Kneipe niemals hätten trinken dürfen?

Dann willkommen in Berlin, der Heimat des Wegbieres. Ein Wegbier ist – anders als die Wegwarte – keine Blume, die am Wege wächst, und es hat auch keine Blume, denn es wird nicht gezapft. Wegbier ist eine euphemistische Bezeichnung für ein billiges Bier, das man im Gehen trinkt – die pragmatisch klingende Bemäntelung eines exzessiven, leicht apokalyptisch gefärbten Wochenend-Alkoholismus. Der volkstümliche Ausdruck für etwas, wofür Sie in den meisten – auch europäischen – Weltstädten nicht nur missbilligend angesehen, sondern in der Regel bestraft werden. Während der Berliner Senat individuelle Grundrechte wie das Recht auf bezahlbaren Wohnraum entschuldigend beiseite zwinkert, ist ihm in diesem Fall der Artikel 2 des deutschen Grundgesetzes (Allgemeine Handlungsfreiheit) so wichtig, dass er im Jahre 2005 den Paragraphen 11 Abs. II des Berliner Straßengesetzes, der den Alkoholkonsum auf öffentlichen Plätzen unter Strafe stellte, aufhob. Ein Schelm, wer finanzielle Gründe vermutet – wahrscheinlich erzeugen die Spätis, jene Tante-Emma-Läden türkisch-kurdisch-asiatischer Provenienz mit Sonderkonzession – einen beträchtlichen Teil des Berliner Bruttosozialprodukts. Und die FlaschensammlerInnen tauchen nicht in der Elenden-Statistik auf. Vielleicht aber ist das Wegbier auch ein lallender Abglanz des in die Jahre gekommenen Berliner Freiheitsversprechens – wie alle Romantizismen eine politische Lüge: Für eine günstige Miete müsst ihr leider an den Stadtrand ziehen; nein, die Lohnniveaus halten da nicht Schritt; und ja – anstelle von Proberäumen und Ateliers sehen wir gern Luxusappartments entstehen, die über einen Aufzug für den familieneigenen SUV verfügen. Aber immerhin dürft ihr euer Bier auf der Straße trinken.

MS

Der Alexanderplatz

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Fahrradstadt?

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