Der Alexanderplatz
Haben Sie eine Schwäche für Stadtplanung vom Reißbrett? Sind Sie ein hartgesottener Anhänger gesichtsloser Urbanität? Fühlen Sie sich gern verloren? Und lieben Sie Zugluft? Dann besuchen Sie den Alexanderplatz. Sie werden nicht allein sein, aber Sie werden sich ebenso einsam fühlen wie all die anderen, die von den hier besonders ausgeprägten Lokalwinden über das Pflaster geblasen werden.
Berlin ist eine breitgetretene Ansammlung mehrerer Dörfer. Dass die Bestimmung eines Zentrums in diesem Fall schwierig ist, liegt auf der Hand. Dass es sich bei diesem Platz um eines von zwei Zentren Berlins handelt, liegt an der Geschichte. Dass dieses – das östliche – Zentrum den Charme eines Lidl-Parkplatzes verströmt, verdankt sich der Mentalität eines Beamtenstandes, der Berlin schon immer dominiert hat: Dörflicher Kleinmut und Allmachtsphantasie teilen sich das kuschlige Berliner Bürokraten-Bett und summen ergriffen das Wort "Traufhöhe" zum Einschlafen. Schon die geplante Umgestaltung des Platzes durch Peter Behrens 1929 erschöpfte sich im Bau von Alexander- und Berolina-Haus, dann war das Geld alle und die Investoren sprangen ab. (Ein Schelm, wer sich an die Gegenwart erinnert sieht, Weltwirtschaftskrise hin oder her.) Die Nazis ließen den Platz links liegen, nach dem Krieg baute man hier Kartoffeln an, erst die Staats-Kommunisten in den 60ern wagten den großen Wurf, in dem sich die berlintypische provinzielle Großmannssucht einerseits und die totalitäre Vereinnahmung des Raumes andererseits glücklich verschwisterten: Die Welt als Aufmarschplatz. Ordnung, Kontrolle, Leere. Das Zentrum – nunmehr auf das Vierfache der vorherigen Fläche vergrößert – ist das Nichts. Es ist die Leere zwischen mehreren Stadtbezirken – Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain.
In dieser Leere gibt es – so sie nicht gerade temporär mit weihnachtlich geschmückten Hütten, quäkenden Jingle-Bells-Klängen und Glühweingeruch angereichert wird – zwei Orientierungspunkte – die Weltzeituhr und den Brunnen der Völkerfreundschaft. An der Weltzeituhr verabreden sich einem unbestätigten Mythos zufolge gern Liebespaare (in Wirklichkeit aber ist es lediglich der einzige Ort auf dem ganzen Platz, der Schutz vor Regen bietet); am Brunnen (der in einer Art von sozialistischem Art Deco gestaltet ist und im Volksmund auch "Nuttenbrosche" genannt wird) versammeln sich bei gnädigem Wetter wohnungslose Punks, orientierungslose Pfadfinder, erschöpfte Touristen und anderes städtisches Treibgut. Bei schlechtem Wetter wirkt der Platz wie ein Felsplateau oberhalb der Wachstumsgrenze – ein menschenfeindliches Nichts, unterhöhlt von U-Bahnen: Wie Murmeltiere tauchen die Menschen aus den Höhleneingängen aus, hasten über die Fläche und verschwinden wieder in einem anderen Loch.
An den Rändern der Leere saugen Kaufhäuser, Kinos, Bistros, verrufene Diskotheken und der Bahnhof Alexanderplatz die Umherirrenden ein. Und – wie jede Leere zieht auch dieser Platz in seiner Unbestimmtheit jene an, die sich nicht zugehörig fühlen oder eine möglichst unbespielte Bühne für ihren Auftritt suchen: Geflüchtete, Gestrandete, Bettler, Taschendiebe, Dealer, 7er-BMW-Fahrer mit ausgestellten Trapezmuskeln und Undercut, Hohenschönhausener Butches oder Ahrensfelder Tuning-Freaks.
Der Fernsehturm – auf der anderen Seite des Bahnhofs – gehört übrigens nicht zum Alexanderplatz. Wie ein mahnender Finger reckt er sich in den Berliner Himmel – von einer Höhe und Freiheit kündend, in die sich das Berliner Bauen nie aufschwingen wird. Daran wird auch das seit den 90er Jahren beschworene Hochhausprojekt aus der Feder des Architekten Kollhoff nichts ändern – die wenigen Hochhäuser, die am Ende tatsächlich entstehen werden, wird der Berliner preußische Uniformitätssinn recht bald auf die zulässige Traufhöhe heruntergeängstelt haben – in diesem Fall auf die des – für Berliner Verhältnisse immerhin riesigen – ParkInn.
MS