Auf links gedreht – den Balg gewendet, das Futter begutachtet, die Nähte geprüft. Das Innere nach außen gekehrt, Kleines großgeschaut und umgekehrt, Smoking und Bettlergewand tauschen die Label. Berlin gegen den Strich gebürstet – Texte für Nörgler und Liebhaber, je nach Perspektive Warnung oder Empfehlung.

Fahrradstadt?

Fahrradstadt?

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Hören Sie den Berliner Hipster "Berlin is so great by bike!" sagen, haben Sie allen Grund, ihm zu misstrauen. Denn Berlin als Fahrradstadt ist die größte Hipsterlüge seit der Wiederbelebung des 80er-Jahre-Pornoschnauzbartes: ein Mythos, einstmals von Lifestyleblogs ins Leben gerufen und fortan von Hipstern sorgfältig gepflegt. Das Phänomen wird Ihnen sicherlich nicht unbekannt sein: Waghälse auf Vintage-Rennrädern oder, schlimmer noch, auf bremsenlosen Fixies, die sich durch die Stadt bewegen, als hätten sie einen Organspendeausweis. Nein, Berlin ist keine Fahrradstadt, in Berlin herrscht Krieg: Autofahrer versuchen im Harnisch ihrer Blechbüchsen ihr Revier zu verteidigen, während Radfahrer sich in scheinheiliger Unschuld allmählich mehr Platz erkämpfen. Ein ungleicher Machtkampf. Ein Fehler beim Rechtsabbiegen und der aus Frisurgründen unbehelmte Radfahrer zieht den Kürzeren. Was bleibt, ist ein Märtyrerkreuz an einer eh schon kniffligen Kreuzung.

Wer näher hinsieht, merkt, dass das Hipsterrad eher Accessoire als Transportmittel ist. Nach dem überzüchteten Ziehhund (Typ Mops oder Neuköllner Dackel) gibt es jetzt auch das selbstgestaltete Schieberad. Denn geschoben wird dieses Rad, geschoben, weil die profillosen Reifen, die sogenannten Slicks, für den Berliner Winter, der mindestens sechs Monate dauert, weitgehend ungeeignet sind. Oder weil die Straßenbahnschienen besonders dafür bekannt sind, in einem kurzen Moment der Unaufmersamkeit die schmalsten Reifen zu verschlucken. Oder weil das ruppige Kopfsteinpflaster der Berliner Kiezstraßen einen so durchschüttelt, dass man Sahne schlagen könnte.

Nein, gefahren, pardon – gecruiset, wird nur im Sommer. Auf der Straße oder auf dem Gehweg, denn der Radweg kann für alles genutzt werden, nur nicht fürs Radfahren. Berliner Radwege sind Parkplätze, Mülldeponien oder auch Ersatzhaltestellen. Herumirrende Touristen blockieren immer mal wieder die freie Bahn, Wurzeln von Bäumen schlagen Löcher in den Asphalt und gelegentlich verschwindet der ganze Radweg im überhängenden Gebüsch – wenn er nicht ohnehin abrupt und ohne Markierung endet. Bevor Sie es merken, haben Sie den Rechtsschutzraum des Radweges schon verlassen und fahren auf dem Gehweg (schimpfende Füßgänger werden so freundlich sein, Sie darauf aufmerksam zu machen) oder auf der Busspur (wenn Sie sich in der Wirbelschleppe eines BVG-Busses befinden, besteht daran kein Zweifel mehr). Radfahren in Berlin ist Fahren im Hindernisparcours. Sind Sie einen Slalom auf Rädern nicht gewohnt, dann besteht eine beträchtliche Chance, von einer sich öffnenden Autotür erwischt zu werden ...

Wenn Sie den Körperkontakt mit Fremden jedoch scheuen, die hoffnungslos überfüllte S-Bahn meiden und den Wind in ihrem Hipsterbart spüren wollen, dann sollten Sie sich schleunigst aufs Rad schwingen und die anderen Verkehrsteilnehmer genauso wenig beachten wie die Unfallstatistik. Berlin by bike – für den modernen und umweltbewussten Großstadtbewohner die alternative Art der Fortbewegung. Aber Achtung: Sie werden sich den Weg mit Egoisten, Soziophoben und Frevlern teilen müssen. No risk, no fun.

JdV

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