Die Spree
Flüsse können vieles sein – Lebensadern, Schifffahrtswege oder Grenzen – immer aber sind sie das Element, das der Ansiedelung von Menschen vorausgeht. Städte entstehen an Flüssen, sie folgen ihrem Verlauf, schmiegen sich in die mäandernden Bögen; Häfen und Piere öffnen den Stadtleib zum Wasser hin und stolze Brücken feiern den Strom, indem sie seine Breite beschreiben. Dresden liegt an der Elbe, Lissabon am Tejo und Bukarest an der Donau: Unübersehbar in diesen Orten ist die Ehrfurcht, die sich in dieser Formulierung ausdrückt – der Fluss ist es, der die Stadt prägt und bestimmt. Nicht so Berlin. Berlin liegt nicht an der Spree; die Spree liegt – besser: versickert – irgendwo in Berlin – ein langsam fließendes, schmales Rinnsal in einem sargähnlichen Bett aus Beton und Naturstein, überspannt von so vielen Steinstiegen (von denen nur wenige den Euphemismus "Brücke" verdienen), dass übergeschnappte Stadtväter schon mal vom "deutschen Venedig" sprachen, einen geringeren Vergleich lässt das permanent narzisstisch gekränkte Selbst Berlins nicht zu. Berlin liegt nicht nur nicht an der Spree, es gibt sich auch alle Mühe, die Existenz dieses armen Flüsschens zu verbergen. Sie möchten sich auf Uferwiesen ausstrecken? Die müden Beine im Wasser baumeln lassen? Dann suchen Sie zuerst den Fluss – nicht einfach, die Anlage der Stadt ist eher geeignet, seinen Verlauf zu verschleiern, am besten sehen Sie ihn vom Fernsehturm aus; ein paar Fragmente zumindest. Dann versuchen Sie an ein Ufer zu gelangen, das den Namen verdient. Sie stoßen mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein Geländer, auf eines dieser sogenannten "Strandcafés", das Ihnen aus Gott weiß welchen Gründen das Gefühl vermitteln will, Sie befänden sich gerade auf einer Pazifik-Insel, oder auf eine Anlegestelle der Weißen Flotte, deren hässliche Touristenboote, die allesamt aussehen wie Design-Phantasien von Citroen aus den 80ern, das bisschen Fluss so verstopfen, dass man mit ein bisschen Glück trockenen Fußes durch das ganze Stadtzentrum käme, indem man von Boot zu Boot springt. Und dann – kaum haben Sie gedacht, dieser Steg dort, auf dem sich ein Bretterhäuschen mit einer improvisierten Bar befindet, könnte ein lauschiges Plätzchen sein, tritt Ihnen ein Türsteher entgegen. Natürlich ist es ein Klub, und natürlich müssen Sie für den Zutritt zum Fluss wie für jede Mangelware Geld bezahlen. Wenn Sie nicht bezahlen müssen, genießen Sie es, denn es wird rasch verschwinden. Denn – falls Sie es noch nicht gemerkt haben – alles, was Berlin interessant macht, wird entweder abgerissen oder – falls gerade der zuständige Lobbyist krank war – von ursprünglich alternativ Bewegten in klingende Münze verwandelt. Genau genommen genießt die Spree etwa so viel Verehrung wie eine durchschnittliche Straße. Ufer ist in Berlin vor allem Bauland. Deswegen baut man schicke Wohntürme für zugezogene Immobilienspekulanten und Bundestagsmitarbeiter ans Ufer und streitet sich später über Uferwege. In den Industriebrachen lässt man Künstler werkeln, bis das Geld Appetit entwickelt. Und die Häfen? Ach, fragen Sie nicht. Dort liegt der Hund und mit ihm das Bürowesen der Medien- und Startup-Szene in hübsch sanierten Speichergebäuden begraben. Aber ein wenig Trost ist doch: Verlassen Sie das Stadtzentrum Richtung Osten: Im Treptower Park reichen die Wiesen bis an den Fluss, und in wundervoll schäbigen Ruderbooten können Sie Ihr eigens mitgebrachtes Bier trinken – mit Blick auf ein abgerocktes Ausflugslokal, auf dessen Tanzfläche sich gelegentlich ältliche Paare zu Roland Kaiser drehen, ein Zementwerk, einen aufgegebenen Luna-Park und die Lichter der suburbanen Neubausiedlung an der Stralauer Bucht. Tatsächlich: Alles Mögliche liegt an der Spree, aber nicht Berlin.
MS