Der Mauerpark
Sie verspeisen nach stundenlangem Anstehen Berlins berühmtesten Döner am Mehringdamm und sind ein Weltenbummler der Lonely-Planet-Generation? Dann herzlichen Glückwunsch! Sie gehören zu den Leuten, die in Berlin am verhasstesten sind. Wie sowohl die Einwohner von Venedig als auch die Bewohner der Simon-Dach-Straße bestätigen können, lässt es sich da, wo andere Urlaub machen, im Allgemeinen schlecht leben. Welcher Berliner wird noch von sich behaupten, nicht eine abrupt aufwallende Abneigung zu verspüren, wenn er die Plastikräder der Rollkoffer über die Schweinebäuche* rattern hört? Die Berliner Xenophobie sieht sich eher durch Touristenströme als durch eine mögliche islamische Unterwanderung bedroht.
Im Mauerpark haben Touristen längst geschafft, was die DDR nur zu versuchen vermochte, nämlich den ehemaligen Todesstreifen so abschreckend wie möglich zu gestalten. Lebten zu DDR-Zeiten noch ganze Kaninchenkolonien auf dem Areal, so ist die Fläche inzwischen gänzlich lebensfeindlich geworden. Dies besonders an Sonntagen, wenn die Touristen mit der Erwartung, jetzt endlich mal das wahre Berlin erleben zu dürfen – weil sie kurz zuvor dann doch nicht ins Berghain gelassen worden sind – den Park überströmen. Im Mauerpark wird vor allem eins gemacht: ausgekatert. Man legt sich scharenweise auf die mittlerweile ausgedörrte Erde oder setzt sich an den nicht mehr so stark bewachsenen, dafür aber vollgekoteten Hang, trinkt je nach Lebenskonzept das mitgebrachte Sterni* oder ein handgebrautes Distinktionsbier aus einer Berliner Manufaktur und konsumiert Unmengen verkohlten Fleisches von einem stark qualmenden Alu-Einweggrill, den man danach natürlich nicht sofort wegwirft, sondern am liebsten liegen lässt, da es ja sowas wie die BSR gibt. (Russische Großfamilien bevorzugen stereotypischerweise das ebenfalls auf dem Gelände befindliche Birkenwäldchen.) Dit is Berlin, wa! Jedenfalls ein gutes Beispiel für die Berliner Nonchalance, die die Broken-Windows-Theorie in Sachen Müll nochmal glashart bestätigt. Der Mauerpark ist eine verdreckte Fläche voller verkaterter Halbzombies, die in jeden zweiten Satz das englische Füllwort like auf so penetrante Weise einwerfen, dass man sich fragt, ob der aktive englische Wortschatz die 750 Wörter, die man für die Alltagskommunikation braucht, überhaupt übersteigt. Die Halbsätze scheinen jedoch niemanden zu stören, solange die Sonne auf den gedankenlosen Schädel brennt und das Bier nicht ausgeht. Und die genervten Blicke – die gelten immer nur dem benachbarten Ukelele-Spieler. Und von denen gibt es leider viele.
Wenn Ihnen das kuschelnde, eitle Jungvolk oder die kakophonischen Hervorbringungen selbsternannter Bands und DJs auf dem Rasen zuviel werden, gibt es immer noch die Gelegenheit, sich mit Tausenden anderer Sentimentalitätskäufer über den angrenzenden Flohmarkt zu schleppen, wo nicht nur Omas alter Schmuck verscherbelt wird, sondern auch ihr Porzellan und ihre Fotoalben. Wenn man Glück hat, findet sich auf den Fotos vielleicht noch der eine oder andere Onkel in Wehrmachtsuniform. Auf der Rückseite in fast kalligraphischer Handschrift: Heinrich. Oder vielleicht auch Fritz.
Der Publikumsmagnet mag wohl der Flohmarkt sein, das Highlight des Mauerpark-Geschehens ist jedoch zuverlässig Joe Hatchibans Bearpit-Karaoke. Hier bieten die, die nach Ruhm dürsten, denjenigen, die sich gerne fremdschämen, die perfekte Gelegenheit, sich über die gestörte Selbstwahrnehmung des jeweils anderen zu freuen. Denn nachmittags finden sich in dem kleinen Amphitheater des Mauerparks sowohl die SängerInnen der Idol-Generation ein – also die, die zwar nicht singen können, selbst jedoch anderer Ansicht sind –, als auch die missgünstigen Zuhörer, die ein boshaftes Vergnügen daran haben, andere scheitern zu sehen. Ein sich selbst erhaltendes System, das sich jede Woche wieder bewährt: Je schlechter die Performance, umso lauter der Beifall. Anders als bei den Gladiatoren jedoch gehen die Narzissten, Sadomasochisten und Wannabe-Stars freiwillig unter die Löwen. Jeder kann heutzutage berühmt werden, sogar ein Detlef, der im Zauber des Rampenlichts vielleicht die Anerkennung sucht, die er nirgendwo anders hat finden können. Berühmt und belächelt. Er hat's zumindest auf seine Art getan*.
Besuchen Sie also den Mauerpark: für Misanthropen und Leute mit Platzangst die Bewährungsprobe schlechthin, für die anderen ein Ort, an dem die beifallbegierige Eitelkeit eine Kulisse findet, und die Hoffnung, entdeckt und gefeiert zu werden, für ein paar Augenblicke genährt wird.
JdV
- *Schweinebauch: typische Berliner Gehwegplatte, deren erdseitige Bauchung für Stabilität sorgt, sie bezieht ihren Namen also aus einer Eigenschaft, die unsichtbar bleibt.
- *Sterni: eigentlich Sternburg – in Unmengen getrunkenes, billiges Leipziger Bier
- *https://www.youtube.com/watch?v=FM6hKaArFf8