Auf links gedreht – den Balg gewendet, das Futter begutachtet, die Nähte geprüft. Das Innere nach außen gekehrt, Kleines großgeschaut und umgekehrt, Smoking und Bettlergewand tauschen die Label. Berlin gegen den Strich gebürstet – Texte für Nörgler und Liebhaber, je nach Perspektive Warnung oder Empfehlung.

Die Berliner Wildnis

Die Berliner Wildnis

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Wie der belgische Schriftsteller Geert van Istendael schrieb, wurde keine andere westeuropäische Großstadt mit soviel Totraum bekleckert wie die Stadt Berlin. Wer Berlin besucht, wird merken, dass im Laufe der Zeit – nicht zuletzt wegen der Bombardements im Zweiten Weltkrieg und der fast dreißig Jahre andauernden Teilung der Stadt – eigenartige Räume entstanden sind, die die Stadt eher zerklüften als gliedern. Auch wenn diese Transitzonen – die oft verwahrlosten und ungenutzten Brachen, die den Berlinern vor allem als Wildpinkel-Refugien dienen – allmählich dem Bauwahn geldgeiler Glücksritter und börsennotierter Immobilien- konsortien zum Opfer fallen, beharrt die inzwischen hier angesiedelte Fauna trotzig auf ihrem Wohnrecht.

Sofern Sie sich auf eine Großstadtsafari durch die Berliner Wildnis begeben und durch die vielfältigen Biotope und Mikrokosmen der Stadt streunen wollen, werden Sie wohl keine Jeeps benötigen, denn das kleine Berliner Wildnischen besteht nurmehr aus vereinzelten Wildnischen und ist daher in jedem Falle fußläufig zu erreichen.

Da die Berliner Brachen schon längst von Hobby-Ornithologen entdeckt worden sind, geht die Wahrscheinlichkeit, dass Sie in dieser Großstadtwildnis alleine unterwegs sind, nahezu gegen null. Wer diese Ungegenden im Zwielicht der Dämmerstunde durchwandert, stößt wie von selbst auf einen besonderen Kreis von Eingeweihten, denn im Gebüsch, im Unterholz und im dichten Gestrüpp trifft man prompt auf die Vampire unter den Vogelkundlern – die Nachtigallenforscher, die – ohne Scherz – die bezirksspezifischen Mundarten des Nachtigallengesangs kartografieren. Vorsicht sei jedoch geboten, denn wer dem Gesang der Nachtigall nicht widerstehen kann und sich einmal von ihm verzaubern lässt, der ist auf ewig verloren.

Wer heil und unversehrt an der Nachtigall und vor allem an deren Erforschern vorbeigekommen ist und seinen Streifzug fortsetzen möchte, entdeckt die Rückzugsräume derer, die eher die Unterwelt bewohnen und das Tageslicht scheuen: der Wühlmäuse, der Kaninchen (die sich im Niemandsland der geteilten Stadt ungehindert haben vermehren können) und nicht zuletzt der fetten Ratten, die von allem, was Berlin kennzeichnet – Müll, Dreck, Verwahrlosung und behördliche Anarchie – besonders profitieren. Wer hat sie am Ostkreuz nicht schon dahinschlendern sehen: Sie haben keine Eile, sie kennen keine Angst – sie sind die ungekrönten Könige des Berliner Nachtlebens.

Dass das tierische Leben in Berlin fröhliche Urständ feiert, ist eigentlich das Resultat langjähriger Vernachlässigung des öffentlichen Raumes. Wie zur Bestätigung lassen die Berliner nicht nur ihre zahlreichen Hunde die Trottoirs vollkacken und sehen ihren neurotischen Katzen dabei zu, wie sie sich überfahren lassen, nein, sie füttern sogar die verdreckten, torkelnden, grunzenden Stadttauben mit den Resten ihrer ungesunden Imbiss-Mahlzeiten.

Aber zurück zum nichtdomestizierten Tierleben: Wer Glück hat, erblickt in Dämmerung und Nacht ein Tier, das sich elegant und leichtfüßig tänzelnd durch die Stadt bewegt, als gehöre sie ihm und nur ihm allein. Ein Tier, das genauso schnell und leise auftaucht, wie es wieder verschwindet. Ein Tier, das uns in seiner fast magischen Erscheinung innehalten und staunen lässt, das cleverste aller Großstadttiere – der Fuchs. Dieser umsichtige Flaneur hat die verschwiegenen Winkel der Stadt still und heimlich erobert und trabt stolz und selbstgewiss durch das nächtliche Berlin. Während die Stadt eifrig Bauflächen an den Meistbietenden verscherbelt, vagabundiert der Fuchs unbekümmert um seinen schwindenden Lebensraum über die Fundamente des Betongolds – er liebt Baustellen und Berlin wird aller Voraussicht nach nie aufhören zu bauen. In manchen Fällen – Sie wissen schon, der Flughafen – bis zum jüngsten Tag.

JdV

Der Mauerpark

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