Zentren
Als erfahrener Reisender sind Sie bestimmt geübt darin, sich in fremden Städten zu orientieren. Sie folgen dem Gefälle, das sich durch die Lage in einem Talkessel ergibt, oder registrieren die zunehmende Verdichtung von Wohnen und Verkehr, wenn Sie sich vom Rand her auf die Stadtmitte zubewegen. Alle Städte mit einem gewissen Alter sind so gebaut – ihren Nukleus bildete einst eine Kirche, ein Hafen oder eine Festung. Sie meinen, dieses intuitive Wissen könnte Ihnen auch in Berlin nutzen? Vergessen Sie es. Nach spätestens zwei Stunden sitzen Sie weinend in irgendeiner Bahnhofsmission und müssen von Ihren Angehörigen abgeholt werden. Und nein – fragen Sie erst gar nicht einen Passanten, wie Sie ins Zentrum kommen. Im besten Fall bekommen Sie eine Gegenfrage gestellt, die Sie nicht beantworten können, zum Beispiel: Welches Zentrum meinen Sie denn? Im schlechtesten Fall schickt man Sie einfach nach Charlottenburg, obwohl Sie nach Berlin-Mitte wollten. Denn ja – Berlin hat zwei Zentren: Ost und West. In einem mittelschweren Fall landen sie dort, wo dieser Jemand das Zentrum der Stadt verortet, nämlich in seinem Heimatkiez, aber dazu später. Das Problem ist nicht nur in der deutschen Teilung begründet, wie der Berliner sich jetzt jammernd rechtfertigen würde, nein, es besteht vor allem darin, dass Berlin eigentlich keine natürlich gewachsene Stadt ist, sondern eine Ansammlung von Dörfern, die seit der Gründung Berlins so lange aufeinander zu gewuchert sind, bis man sie durch Straßen verbinden musste. Bereits zur Zeit der Gründung bestand Berlin eigentlich aus zwei Orten zu beiden Seiten der Spree – Altberlin und Cölln – und preußische Hauptstadt wurde Berlin nur durch die Zusammenlegung mehrerer Städte: Berlin, Cölln, Friedrichswerder, Dorotheenstadt und Friedrichstadt. Wer ist dann der Berliner, werden Sie fragen. Eben – der Berliner an sich ist eine Fiktion. Vielleicht gibt es Berliner Bus- oder Taxifahrer und Currywurstverkäufer, aber sie eint lediglich die Sprache und die damit verbundene lakonische Reduktion der Realität auf einen Kalauer, den Sie immer als befremdlich empfinden werden. Vielleicht essen sie auch alle Currywurst. Ansonsten gilt – in Abwandlung eines bekannten Sprichwortes – du kriegst weder Spandau aus dem Spandauer heraus noch den Spandauer aus Spandau. Falls Sie den Berliner an sich suchen: Das ist ein Pfannkuchen, der in Berlin nicht verkauft wird. Als Ethnie ist der Berliner ein Kiezbewohner. Er ist Moabiter, Neu-Köllner oder Zehlendorfer. Und er wird, falls das möglich ist, seinen Kiez auch nie verlassen. Allerdings ist das nicht möglich: Die Gentrifizierung hat dazu geführt, dass Sie in einigen Stadtbezirken wie Berlin-Mitte, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain nicht nur keine Mitte-Bewohner, Prenzlberger oder Friedrichshainer mehr finden, sondern gar keine Berliner; statt dessen Briten, Schwaben und Amerikaner, die jetzt an ihren Sandwiches, Spätzle und Spareribs nagen und eifersüchtig ihr Berlin gegen Neuankömmlinge verteidigen. Oh, hatte ich behauptet, es gebe keine Berliner? Wahrscheinlich gibt es sie inzwischen – sie sammeln sich, ihrer Kieze beraubt, am Stadtrand in der schläfrigen Banlieue.
MS